Connor brach die Verbindung ab.
Was hatte das zu bedeuten? Connor Doyle widersetzte sich offiziell seinen Anweisungen?
Frank Elsinger, Einsatzleiter des O.S.I.R., war leicht irritiert. So ein Verhalten hatte er nicht erwartet, nicht auf diese offenkundige Art und Weise und schon gar nicht von Connor Doyle.
Irgend etwas stimmte nicht. Doyle hatte nicht gut ausgesehen...
Dann schoss es Elsinger durch den Kopf: war er womöglich infiziert? Weigerte er sich deshalb diesen, zugegebenermaßen, wirklich gefährlichen Organismus zu überführen?
Elsinger konnte und wollte kein Risiko eingehen. Zwar hatte er von dem Parasiten gewusst und natürlich waren Mitarbeiter ersetzbar, doch dieses Team war momentan zu wertvoll um es zu riskieren...
Er griff zum Hörer. Durch einige Tastendrucke erstellte er eine abhörsichere Leitung, von der nur zwei Personen Kenntnis hatten: er selbst und der Leiter des Gamma-Teams, den er in diesem Augenblick kontaktierte.
"William? Hier Frank", begann er und fuhr fort. "Ich brauche ein vollständiges Team. Einsatzort: Russland. Die Nummer der offiziellen Akte ist 321147, die notwendigen Zusatzinformationen findest du in der inoffiziellen Akte 321147-Gamma-3719.
Ein Alpha-Team ist bereits vor Ort. Es gibt vermutlich Schwierigkeiten. Connor Doyle ist möglicherweise infiziert, die anderen vielleicht auch.
Sie und Ihr Team haben den Auftrag, sie da herauszuholen, ich kann nicht den Verlust eines ganzen Teams riskieren.
Aber", warf er ein, "niemand darf Sie und Ihre Aktionen bemerken.
Viel Glück."
Mit diesen Worten legte Elsinger den Hörer auf die Gabel.
In seinem Gesicht zeichnete sich deutlich der Ernst der Lage ab, doch das war nicht das einzige, was sein Ausdruck widerspiegelte. Es lag noch etwas anderes in ihm... Besorgnis?
***
Er hatte Schmerzen. Sein Körper schien von innen zu verbrennen, doch er durfte sich nichts anmerken lassen. Nicht vor seinem Team, das hätte nur alle in ihrer Konzentration gestört und sie von ihrer Arbeit abgelenkt, die momentan unweigerlich wichtiger war, als sein körperliches Wohlbefinden.
Er musste den Auftrag zu Ende führen, aber nicht, wie Elsinger es von ihm verlangte, sondern auf seine Weise. Und er wollte sein Team unbeschadet aus dieser Sache führen. Das war das Mindeste, was er ihnen nach dieser langen gemeinsamen Dienstzeit schuldig war.
Er selbst ahnte, dass er diese Mission vermutlich nicht überleben würde und das stimmte ihn nachdenklich und traurig. Es gab so viel, das ungesagt bleiben würde... Gegenüber seines Teams... gegenüber Lindsay. Niemals hatte er ihr sagen können, was er wirklich für sie empfand. Und nun war es zu spät. Es jetzt zu tun, würde alles nur viel schlimmer machen und er schwor sich, es ihr zu sagen, wenn er diese Situation heil überstehen sollte, doch im selben Moment kam es ihm wie ein feiges Versprechen vor.
War er vielleicht im Unterbewusstsein schon davon überzeugt, nicht zu überleben und konnte sich deshalb solche Schwüre leisten? Er wusste es nicht und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und das Beste zu hoffen.
***
"Gamma-2 an Gamma-1, wir sind auf Position. Richtmikrophone, Ultraschall- und Infrarotsensoren, sowie Wärme- und Bewegungsdetektoren sind installiert und funktionsbereit. Leiten jetzt alle Messdaten und Videosignale zu Ihnen weiter."
"Gamma-1 an Gamma-2, verstanden. Datenübertragung erfolgreich. Erbitte Berichterstattung über jegliche sonstige Vorhaben und Aktionen des Alpha-Teams."
"Verstanden, Gamma-1" Drei schwarz gekleidete Mitglieder des Gamma-Teams huschten durch die Dunkelheit des Gebäudes. Zwei riesige Parasiten schlängelten sich in unmittelbarer Nähe an ihnen vorbei, nahmen jedoch keinerlei Notiz von ihnen.
"Gamma-2 an Gamma-1, Schutzanzüge getestet und einsatzfähig."
"Verstanden, Gamma-2", bestätigte William den Funkspruch und sah wieder auf seine Monitore, die in einer kleinen, versteckten Basis, 200 Meter hinter dem Fabrikgebäude, aufgebaut waren. Viele kleine Bewegungspunkte waren sichtbar, doch nur ein kleiner Bruchteil davon war menschlichen Ursprungs. Es verbargen sich bereits viele dieser Parasiten in den dunklen Winkeln dieses alten Gemäuers, zu viele.
Die ganze Operation hatte sich auf ein Niveau gehoben, das zum Sicherheitsrisiko der höchsten Ebene eskalieren könnte. Dagegen musste etwas unternommen werden.
Zu diesem Schluss war das derzeit operierende Alpha-Team offenbar ebenfalls gelangt, denn sie schienen zum Aufbruch bereit. Vor wenigen Augenblicken war Dr. Cooper, der Zoologe des Teams, von einem dieser Parasiten angegriffen worden. Nicht einmal das Gamma-Team hatte dies verhindern können. Zwar hatten sie die Position des Parasiten lokalisiert, doch was hätten sie tun können? Ihnen waren die Hände gebunden. Sie mussten unentdeckt bleiben. Glücklicherweise war Cooper am Leben, doch wie lange noch?
William sah auf die kleinen Bildschirme und lauschte den übermittelten Gesprächen. Gerade hatte Doyle den sofortigen Rückzug angeordnet. Er selbst lief aber in den Keller des Gebäudes, um die Ladetore zu öffnen.
Ein gefährliches Vorhaben, hinsichtlich der Parasiten, dachte William besorgt bei sich.
William aktivierte das Intercom, doch ehe er etwas sagen konnte, meldete sich schon eins seiner Teams.
"Gamma-2 an Gamma-1, sie brechen auf. Doyle ist auf dem Weg in die Druckkontrollkammer, um die Tore mit Energie zu versorgen."
"Verstanden", bestätigte William kurz angebunden, ehe er den Kontakt zu einem weiteren Team aufnahm: "Gamma-3, haltet euch bereit!"
***
Es war knapp gewesen, doch sie hatten es noch rechtzeitig geschafft. Nun verbargen sie sich in ihren Verstecken und warteten, doch das brauchten sie nicht lange zu tun, denn schon wenige Augenblicke später kam er die Treppe hinunter. Er konnte sich kaum aufrecht halten, presste krampfhaft einen Arm gegen seinen Bauch und eilte schleppend weiter, wobei er sich mit der freien Hand an den Wänden und Apparaturen abstützte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, seine Haare klebten ihm am Kopf, nass von Schweiß. Er atmete schwer.
Dann erreichte er den Kontrollraum. Eilig machte er sich daran die Hebel umzulegen, einen nach dem anderen.
Das Team hörte, wie die Kompressoren arbeiteten, überdrehten und begannen heißzulaufen. Bald schon würde es vorbei sein.
Die drei Mitglieder des Gamma-Teams beobachteten ihn aus den dunklen Tiefen des Raumes, hielten sich bereit und warteten auf ihren Einsatz. Alles musste reibungslos verlaufen, wenn die Operation gelingen sollte. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, jeden Moment war es soweit. Sie sahen sich an. Die Leiterin des Teams gab das Zeichen zum Bereitmachen. Die beiden Männer nickten ihr zu.
Doyle war inzwischen vor Erschöpfung an der Kontrollwand hinabgeglitten und saß nun auf dem Boden. Gerade streckte er den Arm nach dem letzten Hebel aus.
Die beiden Männer wollten gerade ihre Verstecke verlassen als sie die Leiterin zurückhielt. Sie deutete auf einen kleinen Monitor. Vier rote Punkte - das waren sie und Doyle -, eine Menge blauer Punkte – das waren die Parasiten – und ein weiterer roter Punkt näherte sich ihrer Position. In diesem Moment kam auch schon Peter Axon die Treppe hinuntergelaufen. Er war mit einem Stickstoffwerfer bewaffnet zum Schutz gegen die Parasiten. Er wollte Doyle aufhalten, ihn rausschaffen, doch dieser ging nicht darauf ein, sondern wurde statt dessen an sein eigentliches Vorhaben erinnert, die Ladetore zu öffnen. Zusammen mit Axon betätigte er die nötigen Hebel und Schalter. Dann stritten sie. Axon wollte ihn nicht alleine lassen.
Die Teamleiterin sah nervös zu den beiden anderen. Die Zeit wurde knapp. Wenn die Parasiten Doyle zuerst erwischten, war alles zu spät.
Gerade sondierte Axon die Umgebung und bemerkte die Parasiten ebenfalls. Glücklicherweise unterschieden diese tragbaren Standarddetektoren nicht zwischen menschlichen und tierischen Signalen, so dass das Team als solches unentdeckt blieb. Die drei warfen sich erleichterte Blicke zu.
***
Peter, geh‘! Das ist ein Befehl!" Noch immer zögerte Peter, doch er sah die Entschlossenheit in den Augen seines Freundes und machte schließlich einige Schritte in Richtung Treppe. Ein letztes Mal sah er sich nach Connor um, dann lief er los. Er rannte um sein Leben, das wusste er. Und er hatte nur noch wenig Zeit.
Connors Schmerzen waren nun unerträglich geworden. Der Parasit in seinem Magen wand sich hin und her und löste dabei immer neue Wellen des Schmerzes aus, die Connors gesamtes Nervensystem überfluteten.
Er sackte an der Kontrollwand in sich zusammen, mit einer Hand umklammerte er fest den Hebel, der für ihn als auch für alle anderen die Befreiung versprach. Befreiung von gegenwärtigem und zukünftigem Schmerz, ausgelöst durch Kreaturen, deren Herkunft noch immer nicht einwandfrei festgelegt werden konnte.
Er wartete noch einige Sekunden, hoffte, dass sein Team es inzwischen nach draußen geschafft hatte, hoffte, dass auch Peter bereits in Sicherheit war. Die Parasiten kamen näher, er spürte ihre Gegenwart wie einen kalten Schauer, der den Rücken hinabläuft. Er schloss die Augen, dachte an sein Team, dachte an Lindsay, und legte den Hebel um...
Nichts.
Was war geschehen? Mit letzter Kraft gelang es ihm, kurz die Augen zu öffnen, doch er war sehr schwach. Das Letzte, was er sah, bevor er in eine tiefe Bewusstlosigkeit sank, war die Silhouette eines Mannes, der eilig auf ihn zu kam.
***
"Schnell, Leute, beeilt euch!", rief die Teamführerin. "Los, los, schafft Doyle hier raus! Ich bringe die Sprengladung an. Timer auf zwei Minuten."
Während die beiden Männer Connor auf einer Liege hinaustrugen, machte sie sich daran, einige Modifikationen in dem Schaltkasten vorzunehmen, der die Kontrolleinheiten der Kompressoren enthielt. Zuvor hatte das Team vorsichtshalber sämtliche Regelschalter der Kompressoren manipuliert und so geschaltet, dass alle funktionstüchtig sind, bis auf den jeweils letzten, unabhängig von der Reihenfolge, in der die Hebel benutzt wurden. Diese Eingriffe hatten sie vorausschauend an sämtlichen Apparaturen vorgenommen, die ein mögliches destruktives Risiko in sich bargen.
Jetzt überbrückte sie vorsichtig die letzte Sperre, brachte den Zündmechanismus an und lief los. In zwei Minuten würde die Blockade aufgehoben und der Kontakt geschlossen werden und dann würde hier alles in die Luft fliegen.
***
"Lauf, Peter!"
Gewaltige Explosionen erschütterten plötzlich den Boden. Das Gebäude hinter Peter fiel ächzend in sich zusammen. Eine Wolke aus Kalk und Staub, die von lodernden Flammen gespenstisch beleuchtet wurde, war das einzige, das zurückblieb.
"Peter!" Lindsay stürzte auf ihn zu. "Peter! Wo ist Connor?"
Er sah sie an, traurig, wusste nicht, was er sagen sollte. Doch sie verstand ihn auch ohne Worte. Ungläubig sah sie ihn an. Er legte die Arme um sie, drückte sie fest an sich.
***
200 Meter hinter dem Gebäude, das nunmehr nichts als Schutt und Asche war, lagen sämtliche Mitglieder des Gamma-Teams in schwarzen Schutzanzügen in einer Erdmulde. Unter einer feuerfesten Decke waren sie von der Druckwelle geschützt gewesen und waren alle unversehrt.
Connor Doyle war bei ihnen.
Er lebte.
***
Schwere Maschinen trugen langsam den Schutt und die Gesteinsbrocken des eingestürzten Komplexes ab. Das Beta-Team sondierte die Umgebung nach Lebenszeichen. Ultaschall-Thermo-Detektoren, Sonargeräte, Wärmereflektoren und Schallfrequenzanalysatoren halfen bei der Suche, neben vielen anderen High-Tech-Geräten, die nicht unbedingt zur üblichen Standardausrüstung eines Suchtrupps gehörten. Doch für diesen Fall fuhr man sämtliche Geschütze auf, wollte jegliche Möglichkeiten nutzen, wie es von "oben" angeordnet worden war.
"Hier ist auch nichts", berichtete einer der Teammitglieder, "nichts als hunderte dieser Parasitenüberreste, aber keine Spur von Doyle."
***
Das konnte alles nicht wahr sein! Sie hoffte, jeden Moment aus diesem schrecklichen Alptraum aufzuwachen, doch die Hoffnung war vergebens, sie wachte nicht auf und würde dies auch nicht tun, denn es war kein Traum. Es war die Realität, die diesmal eines ihrer grausamsten Gesichter gezeigt hatte.
Wieso hatte sie ihn nicht aufgehalten als sie die Chance dazu gehabt hatte? Wieso? Warum hatte auch Peter ihn nicht zurückgehalten? Er hatte ihn doch als letzter gesehen? Warum ließ er Connor alleine zurück? Peter hätte ihn aufhalten können! Connor könnte jetzt noch am Leben sein.
Lindsay seufzte. Sie lag auf ihrem Bett in einem kleinen, spärlich möblierten Raum, der ihr in der Quarantäne-Abteilung des Zentrallabors zugeteilt worden war. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte sie an die Decke.
Seit drei Tagen waren sie nun schon hier und noch keine Nacht hatte sie richtig schlafen können. Immer wieder wurde sie von Erinnerungen an jene schicksalhafte Nacht gequält.
Nun dachte sie daran, was alles hätte sein können, wenn Connor noch am Leben wäre. Hätte sie es gewagt und ihm ihre Gefühle offenbart? Ihre wahren Gefühle, die weit über das kameradschaftliche Freundschaftsgefühl zwischen den einzelnen Teammitgliedern hinausging? Jetzt würde er es niemals wissen. Niemals. Sein Tod war so endgültig. So schrecklich endgültig.
Niemals.
Tränen rannen ihr das Gesicht hinunter und hinterließen feuchte Flecken auf dem Kopfkissen.
***
Er hörte Geräusche, Stimmen, spürte den leichten Druck einer Sauerstoffmaske auf seinem Gesicht, Lichtreflexe tanzten vor seinen Augen, doch er konnte sie nicht öffnen. Wo war er? Und mit wem? Was machten sie mit ihm?
Ein gedämpfter Schmerz durchfuhr ihn. Der Parasit. Er war also noch immer in ihm. Ein elektronisches Piepen, das er schon die ganze Zeit über im Hintergrund gehört hatte, erhöhte die Frequenz. Sein Herzschlag. War er im Krankenhaus? Wie war er hierher gekommen?
Personen näherten sich ihm, er spürte ihre Präsenz, hörte, wie sie sprachen, doch er konnte nicht verstehen worüber. Er nahm alles wie durch einen Nebel wahr, der sämtliche Sinneseindrücke dämpfte. Er vermutete eine Art von Betäubung. Jemand hob kurz seine Augenlider an und blendete ihn mit einem grellen Licht. Er konnte sich nicht bewegen. Kurz sah er verschwommene Gesichter, dann schlossen sich seine Augen wieder. Die Schwärze hatte ihn zurück. Ein kurzer Stich in seinem Handrücken, eine leichte Berührung einer Hand. Dann spürte er nichts mehr, langsam senkte sich die Müdigkeit über ihn, die Stimmen verschwanden in der Ferne. Er schien zu fallen, in eine Welt aus Stille und Ruhe, Dunkelheit umgab ihn, er hatte keine Schmerzen mehr.
***
Gekleidet in blauer Standardquarantänekleidung, wie momentan jedes Mitglied des Alpha-Teams, saß Peter alleine in einer Ecke seines Raumes und raufte sich die kurzen Haare. Er seufzte tief. Hatte er falsch gehandelt? Hätte er ihn retten können? Nicht einmal jetzt konnte er etwas für ihn tun.
Sobald das Alpha-Team zurückgekehrt war, war es auch schon unter Quarantäne gestellt worden, bis sichergestellt werden konnte, dass niemand von ihnen infiziert war.
Das Beta-Team durchsuchte momentan die Ruinen. Was würde er darum geben, jetzt dort sein zu können...bei seinem Freund.
Hatte er ihn im Stich gelassen?
Er weinte leise.
***
Emsiges Treiben herrschte im Labor, die letzten Vorbereitungen wurden getroffen. Neonröhren tauchten alles in ein kaltes, weißes Licht. In der Mitte des Raumes stand ein metallener Sektionstisch. Ein Team aus Wissenschaftlern und Ärzten, gekleidet in weiße Laborkittel, stand in dessen Nähe.
"Es wirkt, keine Aktivität mehr nachweisbar", meldete eine weitere Laborantin, die nun von ihren Monitoren aufsah. "Ihr könnt anfangen."
"Also los", meinte einer der Ärzte und setzte seinen Mundschutz auf. Die anderen taten es ihm gleich. Sie traten an den Tisch heran auf dem nun Connor Doyle lag. Sein Brustkorb war bereits freigelegt und der Rest seines Körpers mit blauen Operationstüchern abgedeckt.
Ein Skalpell blitzte kalt im künstlichen Licht des Laboratoriums auf.
***
"Ist Peter da drin?", fragte Lindsay Anton leise, der vor der angelehnten Tür zu Peters Raum stand. Lindsay sah müde aus und ihre Augen waren gerötet. Anton ging es nicht anders, auch er trauerte um seinen Freund, der – realistisch gesehen – keine Überlebenschancen mehr hatte. Peter hatte ihnen erzählt, dass Connor infiziert war. Selbst wenn er also den Einsturz und die gewaltige Explosion überlebt hatte, so doch sicher nicht den Ausbruch des Parasiten aus seinem Körper.
Antons Antwort auf Lindsays Frage war ein stummes Nicken. Niemand hatte seit dem Vorfall viel gesprochen. Jeder ging seinen eigenen Gedanken nach, versuchte, mit dieser tragischen Situation fertig zu werden.
Lindsay wollte an ihm vorbei in den Raum gehen, doch Anton hielt sie am Arm zurück. Als sie ihn fragend ansah, schüttelte er nur den Kopf.
Lindsay spähte kurz durch einen Spalt in der Tür. Sie sah Peter. Er saß in einer Ecke des Raumes auf dem Boden, die Knie eng an den Körper gezogen. Sie hörte sein leises Schluchzen. Sie wandte sich ab, Tränen standen in ihren Augen.
"Wir sollten ihn alleine lassen", flüsterte Anton. "Für eine Weile", fügte er dann hinzu.
Anton und Lindsay gingen ein kleines Stück den Gang hinunter.
"Gib nicht ihm die Schuld", meinte Anton plötzlich leise. "Er konnte nichts tun."
"Aber...ich wollte gar nicht...", begann Lindsay, doch sie brach ab, als Anton sie nur stumm ansah. Sie senkte den Blick. Er hatte Recht. Auf eine gewisse Weise wollte sie Peter wirklich die Schuld geben. Sie suchte einen Verantwortlichen. Brauchte jemanden, gegen den sich ihr Zorn richten konnte, doch es war nicht fair! Das war zu einfach, Peter konnte nichts dafür. Sie kannte Connors Art, sicher hätte sie genauso handeln müssen wie Peter. Sie hatte so gehandelt! Auch sie war Connors Anweisung gefolgt, als er sie bat zu gehen und es verfolgte sie in ihren Träumen und Gedanken.
Sie nickte und seufzte.
"Peter gibt sich allein die ganze Schuld an den Ereignissen", fuhr Anton fort, "ich hoffe, er ist bald bereit, um darüber zu sprechen. Er darf nicht alles in sich hineinfressen."
***
"Gute Arbeit. Ich erwarte Ihren ausführlichen Bericht." Per Knopfdruck beendete Elsinger das Gespräch. Er lächelte. Soweit so gut. Nun war der Parasit wieder in seiner Obhut, die Testreihen konnten endlich weitergehen.
***
Langsam kamen seine Wahrnehmungen zurück, doch sie blieben weiterhin gedämpft. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl, doch er konnte es nicht einordnen. Fühlte er sich allein? Doch es war ein gutes Gefühl... Dann wurde es ihm bewusst. Er spürte nicht länger die Präsenz des Parasiten in ihm. Hatte man ihn entfernt? War er gestorben? Er war nicht länger in ihm. Connor fühlte sich gut.
"Paß auf, dass er nicht zu sich kommt", warnte eine der Ärztinnen den Assistenten, der sich momentan um den Patienten kümmerte. Er nickte und überprüfte sofort die Dosierung des Narkotikums und die Zuleitungen des Tropfers.
"Er ist ziemlich blass", bemerkte er dann leicht besorgt.
Die Ärztin trat an das Bett heran und kontrollierte Puls und Temperatur. Zwar waren die Überwachungsmonitore angeschlossen, doch sie überzeugte sich lieber selbst. "Es ist alles in Ordnung", beruhigte sie den Assistenten. "Das sind noch die Nachwirkungen der Operation, sie war sehr anstrengend. Doyle wird es überleben."
Sie wandte sich wieder ihrer aktuellen Arbeit zu, der Erforschung des Parasiten. Es war tatsächlich gelungen, den Parasiten aus dem Wirtskörper zu extrahieren, ohne einen der beiden zu töten. Sie fragte sich noch immer, woher Elsinger diesen Impfstoff hatte, doch solche Fragen behielt man in dieser Branche besser für sich.
"Die Werte sehen gut aus", bemerkte einer der Wissenschaftler, wobei er fasziniert den Parasiten beobachtete, der sich langsam in seinem Gefäß regte. "Unser kleiner Freund hier scheint langsam wieder aufzuwachen."
"Wenn seine Werte stabil sind brauche ich Röntgenaufnahmen und Spektralanalysen", ordnete die leitende Ärztin an. "Bis dahin nehmt Gewebe- und Blutproben. Alles muss analysiert und ausgewertet werden. Und berechnet sein Wachstum. Wir brauchen ein größeres Gefäß."
***
Zwei Monate später.
Das Team hatte sich weitgehend von den Schrecken der damaligen Vorfälle erholt und hatte bereits einige Fälle gelöst. Nun unter der Leitung eines neuen Teamleaders. Matt Praeger. Ein sehr fähiger Mann, doch anfangs herrschte zwischen Axon und ihm eine eisige Stimmung. Peter, der eigentlich damit gerechnet hatte, Connors Nachfolger zu werden, wurde von Elsinger vor vollendete Tatsachen gestellt. Er versuchte, die Situation so gut es ging anzunehmen, doch Praeger machte es ihm mit seinen Sticheleien nicht gerade leicht. Doch zumindest hatte er erheblich dazu beigetragen, dass sich Lindsay und Peter aussprechen konnten. Inzwischen herrschte unter Praeger und Axon Waffenstillstand und langsam baute sich zwischen den beiden eine Beziehung auf, die sogar freundschaftliche Züge annahm.
Gerade hatte das Team den letzten Fall abgeschlossen.
Peter und Lindsay saßen noch im mobilen Labor und packten ihre Daten und Aufzeichnungen zusammen. Sie unterhielten sich beiläufig über den Fall, der sich als ausgemachter Schwindel entpuppt hatte.
Peter sah auf, als Lindsay auf seine letzte Bemerkung nichts erwiderte. Sie saß geistesabwesend am Tisch, ihr Blick verlor sich in der Ferne.
"Lindsay?"
Peter stand auf und ging zu ihr. Behutsam legte er ihr eine Hand auf die Schulter. "Alles in Ordnung?"
"Hhmm?... Oh, ja, alles in Ordnung, Peter. Es war nur... Ich dachte gerade an... "
"Connor?"
Sie nickte und seufzte. "Peter, ich vermisse ihn so sehr."
Er setzte sich neben sie. "Wir alle vermissen ihn, Lindsay. Aber wir müssen versuchen, damit fertig zu werden."
"Ich weiß, das Leben geht weiter, nicht wahr?"
Er nickte. Lindsay lächelte. "Es würde einfacher fallen Abschied zu nehmen, wenn es wenigstens einen Ort gäbe, an dem man sich ihm nahe fühlen könnte, Peter. Aber er hat nicht einmal ein Grab."
"Er ist hier, Lindsay", entgegnete Peter und machte eine Geste, die den Raum einschloss. "Das hier war sein Leben."
***
Am nächsten Tag war das Team wieder zurück in der Stadt, bereit, den nächsten Fall entgegenzunehmen. Bis dahin jedoch, hatten sie alle ein wenig Zeit der Erholung.
"Ich freue mich schon darauf, zwölf Stunden am Stück durchzuschlafen", meinte Peter und seufzte sehnsüchtig als Lindsay ihn vor seiner Haustür absetzte. Sie lachte. Ja, und ich brauche eine lange, heiße Dusche."
Er öffnete die Wagentür und stieg aus. "Na, dann süße Träume, Peter", rief sei ihm hinterher.
Lächelnd winkte er ihr zum Abschied und schloss dann die Wohnungstür auf. Er sammelte die Post vom Boden auf, die sich in den vergangenen Tagen angesammelt hatte. Ein kleines Päckchen war darunter. Peter suchte beiläufig nach einem Absender, doch es war nirgends eine Adresse angegeben. Er legte es zu der übrigen Post. Die Briefe konnten warten.
Zielstrebig ging Peter ins Bad und machte sich frisch. Danach ließ er sich im Schlafzimmer erschöpft aufs Bett sinken und war in wenigen Augenblicken eingeschlafen.
***
Lindsay verließ gerade das Badezimmer, das noch von heißen Dampfschwaden erfüllt war. Sie trug ihren weißen Frotteebademantel und rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken.
Plötzlich klingelte das Telefon. Kurz zog sie in Erwägung, nicht abzuheben, doch dann entschied sie sich doch dagegen und nahm den Hörer von der Gabel.
"Hallo?"
"Sehen Sie in Ihren Postkasten", flüsterte eine heiser klingende Stimme, ehe die Verbindung auf der anderen Seite der Leitung abgebrochen wurde.
Verwirrt sah Lindsay den Hörer an und legte dann auf. Was sollte denn das nun bedeuten? Sehen Sie in Ihren Postkasten.
Ihr war etwas mulmig zumute, dennoch beschloss sie, dieser Aufforderung nachzukommen. Doch zuvor kleidete sie sich an, wer weiß, wer oder was sie erwartete...
Vorsichtig öffnete sie die Haustür und trat hinaus. Aufmerksam beobachtete sie die Umgebung, doch sie konnte nichts Verdächtiges ausmachen. Dann trat sie an den Postkasten heran, steckte den kleinen Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Noch einmal blickte Lindsay umher, doch es schien sie niemand zu beobachten. Ganz vorsichtig öffnete sie nun die Klappe des Postkastens einen schmalen Spalt und spähte hindurch, doch sie konnte keine Drähte, Verkabelungen oder sonstiges feststellen, dass auf einen Sprengsatz oder ähnliches hätte schließen lassen.
Mit angehaltenem Atem öffnete Lindsay die Klappe vollständig, immer noch auf der Hut vor etwas, das ihr vielleicht entgegenspringen könnte, doch alles, was ihr tatsächlich entgegenfiel, waren ein paar Briefe und ein kleines Päckchen. Erleichtert ließ sie ihren Atem entweichen, packte die Post zusammen und ging zurück ins Haus.
Sie betrachtete die Umschläge der Briefe und deren Aufschriften, doch alle waren mit Absendern gekennzeichnet. Das einzige, bei dem nicht ersichtlich war, woher es kam, war das Päckchen.
Vorsichtig öffnete sie es und runzelte die Stirn als sie eine Videocassette herauszog. Auf dem Etikett stand in schwarzen Lettern: Teil 2. Das war alles. Keine Notiz, kein Brief, nichts. Nur diese Cassette.
Lindsay beschloss, sich das Band anzusehen und schob es in den Videorecorder.
Das Fernsehbild flackerte, dann wurde es schwarz. Langsam wurde nun Zeile um Zeile eines Textes eingeblendet:
"(Teil 2 einer zweiteiligen Nachricht; Teil 1 in Besitz von Peter Axon)
...
Aus diesem Grund lege ich Ihnen nahe, dieser Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Doch glauben Sie mir, Sie müssen sich beeilen, ehe es zu spät ist.
Und seien Sie gründlich, nicht immer sind die Dinge so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen.
Abschließend sehen sie die Operationsbasis der geheimen Machenschaften, die so schnell wie möglich aufgedeckt und gestoppt werden müssen." Ein Bild eines heruntergekommenen Lagerhauses wurde eingeblendet. Dann folgte wieder Text: "Ich bitte Sie um Ihre Hilfe und möchte meine vagen Ausführungen entschuldigen, aber mehr konnte ich nicht preisgeben, da sonst meine Anonymität in Gefahr geraten wäre.
Ein Freund"
***
Das Telefon klingelte.
Er stöhnte, murmelte etwas Unverständliches. Dann steckte er seinen Kopf unter das Kissen, doch das Klingeln war unbarmherzig. Seufzend gab er die Hoffnung auf, doch noch weiter schlafen zu können und tastete nach dem Telefon.
"Hallo?", murmelte er mit verschlafener Stimme. Er räusperte sich.
"Peter?"
"Hhm?"
"Peter, ich bin’s, Lindsay."
Nun war er fast hellwach. Irgend etwas in ihrer Stimme verriet ihm, dass es etwas Wichtiges sein musste. "Was ist los?", fragte er. "Ist etwas passiert?"
"Das kann ich noch nicht genau sagen, Peter."
Er runzelte die Stirn.
"Hast du schon deine Post durchgesehen?", fuhr Lindsay fort.
"Mehr oder weniger", meinte er. "Ich hab‘ sie kurz zusammengelegt bevor ich mich hingelegt hatte."
"War ein Päckchen dabei?", fragte sie erwartungsvoll. "Ohne Absender? Nur mit deiner Anschrift versehen?"
Jetzt wurde er neugierig. "Ja", bestätigte er.
"Könntest du bitte nachsehen, was darin ist?"
"Ja, Moment", er legte den Hörer beiseite, eilte aus dem Zimmer und kam mit dem Päckchen in der Hand zurück. Er nahm den Hörer wieder auf. "So, ich habe es jetzt hier."
Er öffnete es und zog den Inhalt heraus. "Ein Videoband", stellte er erstaunt fest und betrachtete es, auf der Suche nach Angaben zu dessen Inhalt. "Teil 1?", las er fragend die Aufschrift des einzigen Aufklebers auf der Cassette.
"Ich habe Teil 2", meinte Lindsay, "und kann nicht viel damit anfangen."
"Na, dann schlage ich vor wir sehen uns das Ganze gemeinsam an", meinte Peter dann.
"Gut, ich bin in einer Viertelstunde bei dir."
"Bis gleich", Peter hängte den Hörer auf die Gabel.
***
"Also los", meinte Peter, schob das erste Band in den Videorecorder und drückte auf Play. Wieder erschien ein schwarzer Hintergrund, vor dem sich ein heller Text aufbaute.
"(Teil 1 einer zweiteiligen Nachricht; Teil 2 in Besitz von Lindsay Donner)"
Ich bitte Sie um Hilfe.
Sie werden sich fragen, wer ich bin, doch das ist nicht wichtig. Sie kennen mich nicht.
Aus Anonymitäts- und natürlich aus Sicherheitsgründen spreche ich nicht persönlich zu Ihnen, sondern habe diesen Weg der Kommunikation gewählt. Ich bitte sie um Verständnis.
Was Sie nun lesen werden, sollte vertraulich innerhalb Ihres Teams gehalten werden um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen und gewisse Sicherheiten zu wahren.
Es geht um ein Lagerhaus (siehe Band 2), das nur nach außen hin ungenutzt ist. Im Innern jedoch, verbergen sich Geheimnisse und Wahrheiten, die unbedingt aufgedeckt werden müssen. Das Projekt muss gestoppt werden.
Ende Teil 1"
Peter wechselte die Cassetten aus.
"Was hältst du davon?", fragte er, nachdem sie sich gemeinsam die Bänder angesehen hatten.
"Ich weiß nicht", meinte Lindsay unsicher. "Viel haben wir ja nicht gerade über dieses "Projekt" erfahren", gab sie dann zu bedenken.
"Aber warum dann diese Bänder, wozu der ganze Aufwand?", warf Peter ein.
Lindsay zuckte mit den Schultern. "Eine Falle?"
"Aber warum?" Peter überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. "Unser letzter Fall war ein Schwindel und die anderen waren auch nicht so umwerfend, so dass wir jemandes Pläne durchkreuzt oder ihn auffliegen lassen hätten."
Lindsay nickte.
"Tja", meinte Peter dann, "dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als der Sache nachzugehen"
"Außer vorher Anton einzuweihen... und Matt", bremste Lindsay seinen aufkeimenden Tatendrang, denn wenn er erst einmal loslegen wollte, war er kaum zu stoppen. Dementsprechend sah die Grimasse aus, die er zog.
Lindsay grinste und schüttelte den Kopf. Dann stand sie auf. "Komm‘ Peter, lass uns den anderen Bescheid sagen."
Er seufzte, erhob sich dann aber ebenfalls. Sie hatte ja recht. Sollte es sich doch um eine Falle oder etwas anderweitig Gefährliches handeln, waren sie mit zwei Leuten aufgeschmissen.
***
"Und ihr wollt nun, dass wir der Sache nachgehen?", fragte Praeger an Lindsay und Peter gewandt, nachdem er sich die beiden Bänder angesehen hatte.
"Ja", gab Peter sofort zurück und machte sich schon für eine der üblichen verbalen Auseinandersetzungen bereit. Doch er bemerkte Lindsays warnenden Blick und er hielt sich zurück. Statt dessen griff sie nun ein.
"Matt", begann sie mit ruhiger Stimme, "wenn wirklich etwas in diesem Lagerhaus vorgeht, sollten wir es überprüfen. Wer auch immer uns diese Bänder zugeschickt hat, verwies auf die Dringlichkeit und bat uns um unsere Hilfe, dieses "Projekt", das er erwähnte, zu stoppen. So schnell wie möglich." Sie sah Matt an, doch sein Gesichtsausdruck schien ihr noch nicht zu gefallen, so dass sie fortfuhr. "Wir haben doch im Moment keinen anderen Fall am Laufen, so dass dieses Unternehmen unsere offizielle Arbeit nicht gefährden würde."
Praeger legte die Stirn in Falten, sah dann in die Runde. "Und Sie sind auch dafür, dass wir uns das Ganze mal ansehen?", fragte er an Anton gewandt.
Als dieser nickte seufzte Praeger und erhob sich von seinem Stuhl. "Also gut, versuchen wir etwas herauszubekommen. Weiß jemand etwas über das Lagerhaus?"
"Im Industriegebiet stehen einige verlassene Hallen, vielleicht ist es eins von denen", meinte Peter, der nun wieder voll des Eifers war.
"Na, dann fahren wir doch einfach hin und sehen nach", schlug Praeger vor, während er schon auf dem Weg nach draußen war und zu einem ihrer Lieferwagen ging.
Peter machte noch schnell einen Videoausdruck des Lagerhauses, dann eilte er den anderen hinterher.
***
"Das muss es sein." Lindsay verglich noch einmal den Ausdruck des Lagerhauses mit dem, das sich nun vor ihnen erhob. Ja, es bestand kein Zweifel, alles Stimmte mit dem Foto überein.
Das Team stand in sicherer Entfernung und beobachtete zunächst die Umgebung und das Lagerhaus selbst, doch sie konnten nichts Verdächtiges feststellen.
Sicherheitshalber holten sie jedoch das mobile Labor an den Ort des Geschehens um sich wenigstens einiger Geräte bedienen zu können.
***
"Okay", Praeger wandte sich an sein Team und atmete noch einmal laut aus, "packen wir’s an!"
Die anderen nickten zustimmend.
Vorsichtig öffnete Praeger die Tür der heruntergekommenen Lagerhalle, zu der sie der anonyme Tip geführt hatte. Er spähte ins Innere. "Hier ist nichts", flüsterte er und ging leise hinein. Lindsay, Peter und Anton folgten ihm.
In der Halle war es still und dunkel, nichts regte sich.
Praeger gab das Zeichen zum Ausschwärmen und das Team teilte sich.
Das Tageslicht, das durch die staubigen, vergilbten Fenster fiel, tauchte die Halle in ein gespenstisches Dämmerlicht. Praeger war froh, dass sie ihre Taschenlampen dabei hatten.
"Seit ihr sicher, dass wir hier richtig sind?", fragte Peter über Intercom, als er sich vergeblich nach etwas Verdächtigem umsah.
"Es muss richtig Adresse sein", antwortet Lindsay, "ein anderes Lagerhaus gibt es in dieser Gegend nicht, das dem auf dem Foto gleicht."
"Es sieht aber nicht so aus, als sei hier kürzlich jemand gewesen...", gab Peter zurück. Der Strahl seiner Taschenlampe glitt über staubige Tische, Stühle und Apparaturen, die seit Jahren nicht mehr genutzt worden zu sein schienen und nun dem Rad der Zeit zum Opfer fielen, das sich unweigerlich drehte und stetig seine Spuren hinterließ.
"Vielleicht wurden wir hinters Licht geführt, und irgend jemand lacht sich jetzt da draußen auf unsere Kosten zu Tode", spekulierte Praeger missmutig.
"Hier sind Fußspuren auf dem Boden", meldete sich Anton plötzlich, "und die Tische sind frei von Staub."
"Oh, hier auch", bestätigte Praeger, der nun vor einer Tür stand, zu der er den Spuren gefolgt war. "Scheint so, als haben sie alles zur Hintertür rausgeschafft. Vielleicht wussten sie, dass wir kommen."
Das Team kam wieder zusammen und untersuchte den Teil der Lagerhalle, der offensichtlich vor Kurzem noch für irgend etwas genutzt worden war.
"Sie haben ganze Arbeit geleistet", meinte Praeger, "es fehlt nur noch der Staub auf den Tischen und dem Boden und wir hätten nichts bemerkt."
"Vielleicht aber doch", bemerkte Peter plötzlich und hob vorsichtig ein Stück eines Glasröhrchens auf, das unter einen der Tische gerollt war.
"Ein Reagenzglas?", fragte Lindsay. Peter nickte und reichte es an Anton weiter.
"Ich nehme es sofort mit ins Labor und untersuche es auf Rückstände", meinte dieser sofort. "Vielleicht wissen wir dann mehr."
"In Ordnung", Praeger nickte. "Wir suchen weiter. Scheinbar ist an unserem Tip doch etwas Wahres dran. Nur sind wir offensichtlich doch zu spät gekommen."
Lindsay nickte zustimmend. "Ja, wer weiß, wie lange diese Videobänder schon bei uns in der Post lagen."
"Mein Gott", flüsterte Peter plötzlich übers Intercom.
Suchend sahen sich Lindsay und Praeger nach ihm um, doch sie konnten ihn nicht ausfindig machen. Nicht einmal am Strahl seiner Taschenlampe konnten sie sich orientieren, denn diese lag noch immer auf einem der Tische, auf dem er sie zuvor abgelegt hatte, um das Reagenzglas aufzuheben. "Peter, wo bist du?", fragte Lindsay.
Keine Antwort. Das einzige Lebenszeichen, das von Peter zu hören war, waren seine schnellen, aufgeregten Atemzüge, die das Intercom übertrug.
"Er lebt!", flüsterte er plötzlich mit zitternder Stimme.
Weinte er? Praeger sah verständnislos zu Lindsay herüber. Nachdenklich sah er sie an. Dann hob er seine Brauen und legte den Kopf schief. Lindsay reagierte nicht. Nun sah sie durch ihn hindurch, in Gedanken versunken weilte sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit. "Er lebt" flüsterte es immer wieder in ihrem Kopf, "er lebt". Konnte das möglich sein? Plötzlich weiteten sich ihre Augen. War es möglich? Konnte das war sein? Glaubte sie wirklich zu wissen, von wem Peter sprach? Oder klammerte sie sich an einen Strohhalm, der nicht einmal vorhanden war?
"Lindsay, er lebt", flüsterte Peter erneut. Wen sonst sollte er meinen, fragte sie sich selbst. Es musste einfach so sein!
"Wo bist du, Peter?", auch Lindsay konnte jetzt nur noch flüstern.
"Wen meint er?", fragte Praeger.
"Ich...", begann Lindsay. Sie wusste nicht genau, wo sie anfangen sollte, doch sie wurde von Anton unterbrochen, der aus dem Labor zurückgekehrt war.
"Ich habe was gefunden", berichtete er aufgeregt. "Ihr werdet es nicht glauben, ich habe einige Parasiteneier in dem Reagenzglas gefunden." Ohne eine Erwiderung der anderen abzuwarten fuhr er fort. "Es handelt sich um die selbe Art von Eiern, wie damals in Russland..."
"Parasiten? Russland?", Praeger hatte nun endgültig die Hoffnung aufgegeben noch irgend etwas von dem Geschehen zu begreifen.
Ehe Anton seine Ausführungen beenden konnte, wurde er von Peters Rufen unterbrochen.
"Hierher!", er winkte vom anderen Ende der Halle zu ihnen herüber. Lindsay lief ohne zu zögern zu ihm . Praeger und Anton folgten langsam. "Was ist los?", fragte Anton. Praeger zuckte nur mit den Schultern. "Ich habe nicht die geringste Ahnung. Peter hat offenbar jemanden gefunden und seit dem sind die beiden wie aus dem Häuschen..." Er hielt inne, als er bemerkte, dass Anton stehengeblieben war und ihn mit großen Augen ansah.
"Nun sagen Sie nicht, Sie wissen auch, um wen es hier geht?"
"Ich bin mir nicht sicher", gab Anton nur zurück und ging dann eilig weiter.
Praeger sah auf zur Decke, er seufzte. Dann machte auch er sich daran, zu erfahren, was das alles zu bedeuten hatte.
Lindsay erreichte Peter. Er nahm sie gleich bei den Schultern, seine Augen glitzerten feucht vor Freude. Er konnte nichts sagen. Statt dessen zog er sie mit sich durch die kleine Tür, die hinter einigen Regalen bisher unbemerkt geblieben war.
Peter blieb in der Tür stehen und beobachtete Lindsay, wie sie langsam weiterging. Er fühlte sich großartig, wie lange nicht mehr. Ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
"Mein Gott", flüstert Anton, der inzwischen hinter ihm stand.
"Wer ist das?", fragte Praeger, der sie nun auch erreicht hatte.
"Connor?", flüsterte Lindsay leise, als sie sich einer Krankenliege näherte, auf der ein Mann reglos lag, lediglich an ein provisorisches Sauerstoffgerät angeschlossen und an einen Tropfer, dessen Beutel leer war. Sie sah, dass sich seine Brust regelmäßig hob und senkte. Tränen standen in ihren Augen. Sie kniete vor der Liege nieder. Ja, es war Connor Doyle, daran bestand kein Zweifel. Zwar waren seine Haare ein wenig länger geworden und ein Bart war ihm gewachsen, doch sie würde sein Gesicht immer wiedererkennen.
Behutsam strich sie ihm die Haare aus der Stirn. Er schien kein Fieber zu haben.
"Connor?", flüsterte sie erneut. "Kannst du mich hören? Ich bin es, Lindsay..."
Sie streichelte zärtlich seine Wange und hielt seine Hand, die von alten und frischen Nadeleinstichen gezeichnet war. Was hatte man hier nur mit ihm gemacht? Wie war er hierher gekommen? Und wer steckte hinter all dem? Das waren Fragen, auf die Lindsay sich keine Antwort geben konnte, doch das war ihr momentan egal. Für sie zählte nur dieser Augenblick, dieser wundervolle Augenblick, der für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt bleiben würde.
"Connor?" Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, das nur für sie beide bestimmt war.
Plötzlich zuckte seine Hand in der ihren und ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht.
Behutsam entfernte Lindsay die Sauerstoffmaske von seinem Gesicht.
Dann öffnete er langsam die Augen.
Seine Augen. Wie sehr hatte sie diese wunderschönen blaugrauen Augen vermisst.
Sie sah ihn an, er sah sie an.
Eine Träne rollte über ihre Wange. Sanft fing Connor sie mit einem Finger auf. Er lächelte. Er öffnete kurz den Mund, als wollte er etwas sagen. Lindsay beugte sich über ihn.
"Darf ich dich zum Essen einladen, Lindsay? Ich habe eine Menge nachzuholen...".
***
"Ja, in Ordnung", Elsinger legte den Hörer auf die Gabel. Lächelnd lehnte er sich in seinem schweren Stuhl zurück. Es hatte alles zu seiner Zufriedenheit geklappt: die Bergung, die Erhaltung des Parasiten, die Tests und nicht zuletzt der anonyme Tip. Niemand würde ihn hinter all dem vermuten und auf diese Weise war es ihm tatsächlich gelungen, alles zu erreichen, was er wollte. Er hatte den Parasiten und er musste nicht auf einen hervorragenden Teamleader verzichten, denn nun, da Connor Doyle so "überraschend" wieder aufgetaucht war, konnte er wieder ins Team reintegriert werden.
Wenn doch alle seine Pläne so reibungslos verlaufen würden...
ENDE